
Die Fährte der weißen Hirsche
Der Morgen war jung als die Vier einander zum ersten Mal begegneten. Nebel hing zwischen den Bäumen wie verschluckte Gedanken, während Sonnenlicht in dünnen Streifen durch das dichte Blätterdach fiel. An jenem Tag sollten sie lediglich Vorräte bringen – Nahrung, Medizin, nichts, das in Geschichten gesungen wird. Und doch war es eben dieser Tag, an dem sich ihre Namen und Geschichten zum ersten Mal miteinander verflochten.
Niob, ein schweigsamer Tiefling, marschierte an der Spitze der kleinen Gruppe. Sein Kampfstab ruhte quer auf seinen Schultern, während seine goldenen Augen das Unterholz wachsam musterten. Dahinter Leona, in Herkunft durch die spitz zulaufenden Ohren, und in Berufung durch den Dudelsack auf ihrem Rücken zu erkennen; in ihren Gedanken überall und nirgends zugleich. Samira, ihrerseits ebenfalls eine Halbelfin, doch deutlich graziler als Leona, war kaum ein Laut unter den Schritten der anderen. Sie bewegte sich in den Schatten – fast mehr gespürt als gesehen.
Und Bree – Der kleine Halbling war fast nie zu sehen. Leichtfüßig und ohne Angst bewegte sie sich hoch oben von Ast zu Ast, von Wipfel zu Wipfel. Mit gespannter Sehne und scharfem Blick beobachtete sie aus der Höhe den Weg voraus – ein wachender Schatten zwischen den Zweigen.
Tom, ein wettergegerbter Jäger mit einem seltsamen Ernst in den Zügen, erwartete sie an einer Weggabelung. Er sprach wenig, doch seine Schritte kannten den Wald. Unter seiner Führung schob sich die Truppe tiefer ins Grün, zwischen alte Eichen und flüsterndes Laub.
Fast hätte der Tag seinen Namen verloren, wäre da nicht plötzlich dieses Knacken gewesen. Erst eines. Dann ein zweites. Als hätten alte Knochen beschlossen, wieder zu sprechen.
Drei Skelette brachen aus dem Unterholz. Ihre Kiefer schnappten stumm, als suchten sie Worte, die längst verloren waren. Doch der Kampf war kurz. Niob wirbelte mit seinem Stab, zerschmetterte Schädel. Samira tauchte aus den Schatten, ihre Dolche blitzten einmal, zweimal – Stille. Bree, flink wie der Wind, sprang von einem Ast herab, ließ sich mitten ins Gefecht fallen, das Kurzschwert in der Hand, der Bogen gleich darauf gespannt. Leona hielt sich zurück, beobachtete, und wenn nötig, lenkte sie ein – ein leiser Ruf, ein heilender Hauch.
Zurück blieb nichts weiter als Knochenstaub.
»Ungewöhnlich«, murmelte Tom, während er einen zerbrochenen Oberschenkel mit dem Fuß zur Seite schob. »Hier draußen verirren sich selten Knochen ohne Fleisch.«
Niemand widersprach.
Als sie den Unterschlupf der Jäger erreichten, roch die Luft nach Eisen und Moder. Zwei Körper lagen vor dem Höhleneingang – ehemalige Wachen, ihre Glieder in seltsamen Winkeln verdreht. Um sie herum lagen weitere Knochen, zerstreut wie Würfel nach einem verlorenen Spiel. Zu viele um zu einem einzelnen Menschen gehört zu haben.
Tom erbleichte. »Scheiße. Scheiße! Hier stimmt was ganz und gar nicht!«
Die Vier nickten stumm. Worte halfen hier nicht weiter.
Mit angehaltenem Atem schlichen sie in die Höhle. Das Licht wich dem Dunkel, und das Dunkel flackerte im Feuerschein. Drinnen tobte ein Kampf. Sechs Jäger, schwer verletzt, kämpften verzweifelt gegen eine weitere Welle untoter Knochen. Doch es war der Mann dahinter, der das Bild prägte – hochgewachsen, blass, mit einem langen Stab, der in düsteren Runen glühte. Seine Augen waren von Schmerz gezeichnet, nicht von Hass.
Sie zögerten nicht. Bree, die sich lautlos durch die oberen Felsspalten bewegt hatte, ließ einen ersten Pfeil aus dem Schatten fliegen. Niob sprang mit wilder Eleganz über einen gefallenen Jäger, sein Stab ein Wirbel aus Holz und Wucht. Samira verschwand in den Schatten des Gefechts, nur um einen Moment später dem Nekromanten einen Schnitt über die gesamte linke Seite zu verpassen. Leona, vom Rande des Kampfes aus, sandte ihre Magie aus wie eine Welle aus Licht und Klang, heilte, wo Blut floss, schwächte, wo Schatten wuchsen.
Tom blieb zurück, zu starr vor Schock um sich zu rühren.
Der Kampf zog sich länger als zuerst erhofft. Ein Weiterer der Jäger fiel. Der Nekromant, auch schwer verletzt, zog immer wieder dunkle Energie aus den Knochen zu seinen Füßen. Doch am Ende reichte es nicht. Ein letzter Schlag, ein letzter Pfeil, ein letzter Hauch Magie – und er fiel.
Im Sterben begriffen hatte er nur noch eine letzte Botschaft, die er unbedingt mit der Welt teilen wollte. Keuchend.. »Eichenhain… Meine Familie… die schwarzen Früchte… verflucht… Nur das Blut der weißen Hirsche… Nur das… Ich wollte sie retten. Die Jäger…«
Ein letztes, röchelndes Atmen, ein letztes Zusammenfallen der Brust, dann war da nur Stille.
Die Vier standen schweigend. Keinem von ihnen war der Tod ein Fremder, doch diesmal hatte er eine andere Geschichte erzählt.
Tom, bleich wie Dioritgestein an den Höhlenwänden, trat endlich näher. Sein Blick fiel auf den toten Magier, dann auf seine teils toten, teils schwer verletzten Freunde, und dann auf die Vier, mit denen er nur kurz Zuvor noch auf dem Weg gewesen war. Die richtigen Worte fand aber auch er nicht.
Niob wandte sich wortlos ab. Samira kniete bei dem Magier, durchsuchte seine Taschen – keine Bosheit, nur die Gewohnheit der Vorsicht. Bree, deren Blick auf den Käfigen in einer Ecke der Höhle ruhte, in denen zwei mächtige, weiße Hirsche gefangen waren, fragte leise in die Runde »Was tun wir jetzt?« Niemand antwortete sofort. Doch nach einem Moment erwiderte Samira ruhig: »Wir bringen die Vorräte. Und vielleicht… suchen wir später die Familie dieses Mannes.«
So begann ihre Geschichte. Nicht mit einem Sieg. Nicht mit Gold. Sondern mit Schuld. Und der Ahnung, dass Heldentum oft nicht in den Liedern steckt – sondern in dem, was man danach tut.